Großer Manitou – kleiner Indianer

Nicht jeder kann und will Mitarbeiter führen. Immer mehr Unternehmen etablieren deshalb Experten- oder Projektlaufbahnen als Alternative zur klassischen Karriere in der Linie. Damit wollen sie Wissensträgern eine Perspektive bieten und sie halten. Der Aufstieg ins Top-Management bleibt ohne Führungsverantwortung allerdings die Ausnahme, auch Jobwechsel fallen schwerer. 

Die Frage, ob er eigentlich Chef werden wolle, hat sich Bernd Robioneck nie gestellt: „Ich war es einfach vom ersten Arbeitstag an“, sagt der promovierte Ingenieur. Bei seinem ersten Arbeitgeber, dem Medizintechnikhersteller Howmedica, stieg er vor 20 Jahren direkt als Leiter einer kleinen Abteilung ein: „Ich war damals einer der ersten Absolventen im Fach Biomedizinische Technik. Es gab kaum Stellenangebote – aber eben auch kaum Konkurrenz“, erklärt der Absolvent der FH Aachen. Er hatte das richtige Diplom, war sofort verfügbar und bekam den Job im norddeutschen Schönkirchen. Heute gehört Howmedica zum US-Medizintechnikkonzern Stryker mit weltweit über 20.000 Mitarbeitern. Auch Bernd Robioneck ist mit seinen Aufgaben gewachsen. Vice President Research & Development Stryker Trauma & Extremities steht inzwischen auf seiner Visitenkarte. Das heißt: Der 48-jährige Manager leitet bei Stryker in Schönkirchen heute den Bereich Forschung und Entwicklung für medizinische Implantate und trägt Verantwortung für über 150 Mitarbeiter.

Von einer glanzvollen Karriere träumen viele zumindest zu Beginn der Karriere. „Anerkennung im Beruf zu erwerben“, ist für Studenten aller Fachrichtungen mit Abstand das wichtigste Karriereziel. Das zeigt eine repräsentative Umfrage unter 6.000 Studenten (Hisbus Online-Umfrage: „Glück und Zufriedenheit Studierender“). Nach wie vor verbindet ein Großteil damit auch den Aufstieg in eine Führungsposition. Im Job später „eine leitende Funktion zu übernehmen“, hat sich laut Hisbus immerhin knapp jeder zweite vorgenommen (47 Prozent). Überdurchschnittlich an einem Chefposten interessiert zeigen sich vor allem Wirtschaftswissenschaftler (68 Prozent) und Juristen (56 Prozent), aber auch Ingenieure (51 Prozent). Traditionell weniger ausgeprägt ist das Streben nach Macht und Verantwortung dagegen bei Natur- und Kulturwissenschaftlern sowie bei Lehrern.

Karrieren wie die von Bernd Robioneck sind allerdings seltener geworden: In den ersten Jahren nach seinem Einstieg ist das Unternehmen rasant gewachsen, so dass es immer wieder neu geschaffene Führungspositionen zu besetzen gab und er rasch weiter aufsteigen konnte. Doch auch bei Stryker werden Hochschulabsolventen nicht mehr vom Fleck weg als Chef engagiert.

In den vergangenen Jahren hat der Wind  gedreht: In vielen Unternehmen stehen die Zeichen eher auf Verschlankung, also Abbau von Hierarchieebenen. Durch dies und die Zusammenlegung von Abteilungen und Funktionsbereichen sind viele Führungspositionen entfallen. Zwangsläufig bleibt also der Aufstieg in die Chefetage für immer mehr Nachwuchskräfte verschlossen. 

Führen ist anstrengend

Dort gefällt es ohnehin nicht jedem, denn „an der Spitze ist es einsam“, weiß Bernd Robioneck. Um zu führen, brauche es eine gewisse Distanz: „Als Führungskraft steht man ständig unter Beobachtung und muss den Mitarbeitern Orientierung geben.“ Und wenn die Zeiten mal hart sind, dürfen sich Chefs nicht hängen lassen und ihren Frust öffentlich ausleben, denn darunter leidet die Motivation des gesamten Teams. Auch persönliche Sympathien oder Vorlieben dürfen nicht zu offensichtlich zur Schau getragen werden.

Die Führungsrolle koste also viel Zeit und Energie, bestätigt auch Personal- und Karriereberater Heiko Mell aus Rösrath: „Zum Chef befördert zu werden, heißt, dass man sich plötzlich ganz schön viel um andere Leute kümmern muss.“ Statt zu forschen, zu entwerfen oder zu entwickeln, muss der Vorgesetzte Streitigkeiten und Eifersüchteleien im Team schlichten, Mitarbeiter motivieren oder Feedback geben, Gehaltsverhandlungen führen und stapelweise Anträge und Formulare abzeichnen. Nicht jeder verspüre den Drang dazu, weiß Heiko Mell.

Gerade in Krisenzeiten ist es zudem oft alles andere als spaßig, im Team unbequeme Sparmaßnahmen umzusetzen oder Extra-Leistungen einzufordern. Insbesondere Führungskräfte der unteren und mittleren Ebene leiden unter ihrer Sandwich-Position: Sie müssen nach unten durchsetzen, was ihnen von oben vorgegeben wird – oft ohne selbst davon überzeugt zu sein.

Zum Erfolgs- und Zeitdruck kommt noch die permanente Erreichbarkeit per Handy und E-Mail. Das bringt gerade im unteren und mittleren Management viele an den Rand ihrer Belastbarkeit, wie eine Umfrage der Deutschen Gesellschaft für Personalführung (DGFP) aus dem Jahr 2011 zeigt. Rund 60 Prozent der Unternehmen melden aus diesen Hierarchie-Ebenen Probleme wie Teamkonflikte, Fehlentscheidungen und steigende Fehlzeiten aufgrund der hohen psychischen Beanspruchung.

„Führen ist komplexer geworden. Es ist sehr herausfordernd, mit Veränderung konstruktiv umzugehen und Menschen in sich wandelnden Umfeldern mitzunehmen“, sagt auch Trainerin und Karrierecoach Petra Bock aus Berlin (siehe Interview). Zu ihr kommen viele Führungskräfte, die sich in ihrer Rolle aufgerieben haben und nun einen Richtungswechsel planen. 

Befördern ja – aber bitte nicht zum Chef!

Kein Wunder also, dass immer mehr Berufseinsteiger ihre Chefs nicht gerade beneiden und sich eine Führungsrolle entweder nicht zutrauen oder nicht zumuten wollen. Der Haken an der Sache: Die Beförderung zum Team- oder Gruppenleiter war lange Zeit der einzige Weg für Unternehmen, Leistungsträger formal und für alle sichtbar anzuerkennen und mit mehr Status und Geld zu belohnen. Die Folge: In klassischen Organisationen wurden oft die besten Sachbearbeiter zum Chef befördert – fachlich hochqualifizierte Experten, nur leider oft ohne Führungstalent: „Statt zu motivieren, erzeugt so eine Entscheidung nur Frustration auf beiden Seiten – bei den überforderten Managern und bei deren Mitarbeitern“, sagt Martin Hofferberth von der Personal- und Vergütungsberatung Towers Watson.

Als Notlösung entstanden oft „Pseudoführungsfunktionen“ – also leitende Angestellte, die eigentlich nur einen einzigen Mitarbeiter leiten, weiß Armin Deuter, geschäftsführender Partner bei der Hamburger Unternehmensberatung Baumgartner & Partner: „Das tut der Organisation auf Dauer nicht gut“, sagt der Managementexperte. Überdies werden solche Positionen in der Krise meist als erste wieder einkassiert und hinterlassen dann einen demotivierten, degradierten Ex-Leiter.

Die Unternehmen stecken also in der Zwickmühle: Auch Mitarbeiter, die eine Führungsrolle eher ablehnen, möchten sich weiterentwickeln und ihren Zuwachs an Wissen, Kontakten und Erfahrung angemessen honoriert sehen. Konkret geht es dabei um Fragen wie: Was steht auf der Visitenkarte? Wer darf mit ins Vorstandsmeeting? Wer bekommt einen Dienstwagen? Wer darf Business Class reisen?

Als Ausweg haben vor allem größere Unternehmen, insbesondere solche mit starken Forschungs- und Entwicklungsabteilungen, in den vergangenen Jahren neben der klassischen Managementkarriere Experten- und Projektmanagement-Laufbahnen entwickelt. Das bedeutet: Sie trennen zunehmend die fachliche von der disziplinarischen Führung der Mitarbeiter.

Mit den neuen alternativen Entwicklungspfaden sei nur noch die fachliche Führung von Mitarbeitern verbunden, also das Setzen von Zielen und die Beurteilung der Arbeitsergebnisse – je nach Erfahrungsstand und Karrierestufe auf Team-, Abteilungs- oder Bereichsebene, erklärt Martin Hofferberth von Towers Watson. Die disziplinarische Führung, also beispielsweise Leistungsbewertung, Zielvereinbarung oder Personalentwicklung, bleibt beim Vorgesetzten in der Linie. 

Fachkarriere: Karriere zweiter Klasse?

Wer sich für eine Fach- oder Expertenkarriere interessiert, sollte allerdings genau hinschauen, um nicht in eine Sackgasse zu geraten. Offiziell gibt es die sogenannte „Fachlaufbahn“ nämlich schon länger, allerdings gilt sie in vielen Unternehmen noch immer als Karriere zweiter Klasse: „Die ersten Karrieresysteme für Fachexperten waren unter finanziellen Gesichtspunkten wenig attraktiv“, bemängelt Martin Hofferberth – letztlich ein Ausdruck dafür, dass Fachpositionen im Unternehmen lange Zeit weniger wertgeschätzt wurden als klassische Führungspositionen.

„Wenn Fachkarrieren als Abstellgleis für überflüssige oder untalentierte Führungskräfte missbraucht werden, ist das Konzept zum Scheitern verurteilt“, warnt auch Unternehmensberater Armin Deuter. Die inflationäre Nutzung sei eines der größten Probleme dieses Personalentwicklungskonzeptes. Expertenpositionen ließen sich nicht beliebig produzieren, weiß der Organisationsexperte, der unter anderem den Mobilfunkkonzern E-Plus und den Automobilzulieferer Eisenmann bei der Einführung von alternativen Karrierekonzepten begleitet hat. Oberstes Gebot war dabei für ihn: Nur was knapp ist, ist auch wertvoll und begehrt. 

Experten haben Schlüsselqualifikationen

An die Stellenbeschreibungen und die entsprechenden Kandidaten legen erfolgreiche Unternehmen deshalb strengste Maßstäbe: „Experten sitzen auf erfolgskritischen Schlüsselpositionen und erbringen Leistungen, die das Unternehmen so am Markt nicht einkaufen kann“, sagt Armin Deuter. Ausschlaggebend für den Karriereverlauf sei also der Unternehmensbedarf und nicht die Anzahl an qualifizierten Kandidaten. Bei E-Plus befinden sich aktuell beispielsweise nur 36 von insgesamt 2.400 Mitarbeitern in der Experten- und Projektlaufbahn.

„Den Zugang nicht verwässern“, lautet auch der Ratschlag von Martina Neuhäuser, Personalchefin bei der Salzgitter Flachstahl AG. Das Unternehmen mit 5.000 Mitarbeitern ist die größte Tochter der Salzgitter AG und hat in den letzten sieben Jahren ebenfalls eine erfolgreiche Expertenlaufbahn etabliert. Genau wie bei klassischen Führungspositionen durchlaufen die Bewerber hierfür strenge Auswahlverfahren und müssen ihre fachliche Weiterentwicklung anhand klar nachvollziehbarer Kriterien nachweisen: Haben sie anspruchsvolle Weiterbildungen absolviert, Forschungsprojekte erfolgreich abgeschlossen, aussichtsreiche Patente angemeldet oder in renommierten Fachpublikationen veröffentlicht?

Die Gleichwertigkeit der Laufbahnen sollte im Unternehmen klar verstanden und kommuniziert werden, raten Personal-Fachleute. Wer Experte sei, müsse als solcher auch in Erscheinung treten – zum Beispiel, indem er regelmäßig Fachvorträge hält, das Unternehmen auf Messen und Kongressen vor Fachpublikum repräsentiert und an wichtigen internen und externen Gremien bis hin zur Vorstandsrunde teilnimmt. Das aber erfordert mehr als reines Fachwissen: „Introvertierte Tüftler, die den ganzen Tag nur am Schreibtisch sitzen, eignen sich nicht für die Expertenlaufbahn“, mahnt Armin Deuter. Gefragt seien kommunikative Networker, die ihr Wissen aktiv mehren und teilen. Dazu gehört auch, die eigenen Arbeitsergebnisse selbst zu präsentieren und zu vertreten, statt wie ein Sachbearbeiter nur dem Boss zuzuliefern. „Sie müssen vorstandsfest sein und können sich nicht hinter Ihrem Abteilungsleiter verstecken“, sagt der Hamburger Unternehmensberater.

Ein klarer Gradmesser für die vergleichbare interne Wertschätzung ist das Gehalt: „Die Vergütung von Positionen einer ernstzunehmenden Fachkarriere liegt heute in der Regel auf dem Niveau der Managementkarriere oder mit rund zehn Prozent nur leicht darunter“, weiß Vergütungsexperte Martin Hofferberth. Faustregel: Je weiter oben in der Hierarchie, desto größer die Differenz. Denn: „Spätestens ab Bereichsleiterebene ist die Trennung von fachlicher und disziplinarischer Verantwortung nur noch schwer möglich“, sagt Hofferberth. 

Experten landen nicht ganz oben

Für Experten endet die Karriere deshalb meist schon früher als für Führungskräfte. Die Chancen, eines Tages selbst im Vorstand zu entscheiden, anstatt bloß Ergebnisse zu präsentieren, sind jedenfalls gering. „Menschen, die arbeiten, müssen geführt werden, das ist das Herz der kommerziellen Wirtschaft“, sagt Karriereberater Heiko Mell. Die Fachlaufbahn bleibt für ihn ganz klar eine Nebenfunktion.

Optimistischer ist da Martin Hofferberth von Towers Watson: Experten auf Vorstandsebene wären bislang zwar noch eine absolute Seltenheit, Ausnahmen seien jedoch denkbar: „Zum Beispiel wenn ein Software-Unternehmen einen Technologie-Guru oder ein Mode-Konzern einen Trend-Master im Board führt“, erklärt er. Hofferberth erwartet sogar, dass in modernen, schlanken Organisationen Expertenpositionen auf Top-Management-Ebene zunehmen werden. So könnten sich etwa durch verstärktes Outsourcing künftig neue Funktionen ergeben, beispielsweise für den  Leiter der Schnittstelle zur ausgegliederten IT. 

Quer-Wechsel sollten möglich sein

In Unternehmen wie Bosch oder E-Plus sind die neuen Laufbahnen so konzipiert, dass horizontale Wechsel – von der Fach- auf die Führungslaufbahn und umgekehrt – an verschiedenen Punkten möglich sind. Beim weltweit präsenten Technologiekonzern Bosch etwa, haben alle drei Laufbahntypen die Möglichkeit, international zu arbeiten und sich weiterzuentwickeln.

Davon profitieren Experten spätestens beim Jobwechsel: Ganz ohne Führungserfahrung gestalte sich der Wechsel mit steigendem Gehalt nämlich immer schwieriger, warnt Heiko Mell. Allen, die eine Fachlaufbahn einschlagen, rät der Karriereberater, vorab sorgfältig den Stellenmarkt zu analysieren: Wo gibt es im Zweifelsfall außerhalb des eigenen Unternehmens noch passende Positionen? Wer ist bereit, das spezielle Expertenwissen auch überdurchschnittlich zu honorieren? „So mancher Personaler wird in Ihnen bloß einen teuren Sachbearbeiter mit Dienstwagen sehen“, warnt Mell. Die gute Nachricht: Gut dotierte Expertenpositionen gibt es – und es werden mehr. Schließlich dienten Expertenlaufbahnen ja gerade dazu, wichtige Wissensträger im Unternehmen zu halten, sagt Armin Deuter. Sein Fazit: „Wechselmöglichkeiten bestehen, sonst müssten Unternehmen sich die Mühe ja gar nicht machen.“  

Starre Hierarchien sind out

Die zunehmende Einführung von Fach- und Projektleiterkarrieren kommt Nachwuchskräften offensichtlich auch entgegen, denn der Wunsch zu führen, lässt insgesamt quer durch alle Fachrichtungen nach. Beim Vergleich der Hisbus-Umfrageergebnisse aus den Jahren 2002 und 2008 fällt auf: 2002 strebten noch 57 Prozent einen Chefposten an – ganze zehn Prozentpunkte mehr als heute. Karriere bedeutet also für junge Akademiker offenbar nicht mehr automatisch, Personalverantwortung zu tragen.

Die Gründe dafür liegen nicht nur im Wunsch nach einer besseren Work-Life-Balance. Die globale Finanzkrise, aber auch große Betrugs- und Korruptionsskandale haben in den letzten Jahren am Image des wirtschaftlichen Spitzenpersonals gekratzt und lassen eine stromlinienförmige Karriere in großen Konzernen weniger reizvoll erscheinen. Auf die sozial vernetzte Generation Facebook, die gerne spontan kommuniziert und freimütig ihre Meinung äußert, wirken starre Hierarchien zudem eher abschreckend. Sie zieht es stattdessen in locker organisierte Unternehmen mit flachen Hierarchien, wo leidenschaftlich an der Sache und weniger am formalen Aufstieg gebastelt wird.

Nicht umsonst wählten deutsche Berufsanfänger beim Young Professional Barometer 2011, für das 3.900 Nachwuchskräfte mit erster Berufserfahrung befragt wurden, erstmals den Internetpionier Google zum attraktivsten Arbeitgeber – noch vor BMW, Daimler und Audi. „Wir sind kein konventionelles Unternehmen und wir haben nicht die Absicht eines zu werden“, heißt es auf den Google-Karriereseiten. Gesucht würden Leute, die gerne „unter Hochspannung, ohne feste Strukturen und in sehr kleinen Projektteams arbeiten.“

Kirstin von Elm